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Max Nordau
Pest, 16. Jänner 1869.
Liebster Freund!
Heute Vormittags haben wir Ihren sehnlich erwarteten,
lieben Brief bekommen. Es ist Samstag Abends; das bedeutet,
daß Nazi in der Druckerei ist, und ich allein in meiner
Stube sitze. Ich habe jetzt Zeit zu denken, aber, was ich
bedeutend seltener kann, auch zu fühlen. Riefelt wieder
Quellen der Erinnerung! Spület weg die Rinde, die sich mir um
die Seele gelegt, lasset den Geist sich baden in auch, nackt, kindisch,
wolig-vergnügt! Ich bin heute sentimental, und geneigt zu „plau¬
dern”, was ich von „sprechen” wolunterschieden wissen will. Wenn
Sie jetzt hier wären, so würden wir uns um unseren köstlichen
Ofen setzen, den Tisch näherrücken und einen Thee trinken, der
mindestens so gut wäre, als der, den Sie jetzt trinken. Da Sie
aber nicht zu mir kommen wollen, so will ich zu Ihnen, denn plau¬
dern muß ich heute durchaus. Draußen schneit es so, als wollte der
bisher so säumige Winter mit einemmale seine Schuld abtragen;
die Wege sind jetzt glatt und weich, ein Sprung und ich bin bei
Ihnen! „Guten Abend, liebster Freund!” Eine Sekunde star¬
ren Erstaunens – dann ein Aufschrei „Sind Sie ein Geists?” „Ja,
und noch dazu ein freier!” „Isten hozta! Ez ám a vendég!”
„Nun gut, ich bin einmal da, keine Umstände, nehmen wir
Platz.” Ich schau" mich um – das Gemach ist klein, aber trau¬
lich; der Ofen ist plump, aber waren; der Fußbaden ist
lehmbestrichen, aber man kann wacker auftreten, denn er
gehört einem Freunde; die Decke ist niedrig, aber bücken
muß man sich doch nicht – Freund, Sie wohnen prächtig.
Also sprechen wir; wovon dann? Nur um Gottes Willen nicht
von Politik, von Literatur, von Philosophie, von Wissenschaften –,
ich bin froh, daß ich die Ölgötzen heute los bin. Tauchen
wir nieder in die See der Vergangenheit – Ihr prächtiges
Gedicht, das Sie mir geschickt, hat mich so süß erinnert – ja ja,
heute nichts von der Zukunft, wir wollen ihr nicht ins räthsel¬
hafte unbestimmte Auge blicken, denn ich wäre heute recht be¬
trübt, eine Thräne darin zu sehen, zurück, zurück in die
Vergangenheit!
Und wir saßen in dem kleinen Stübchen in der Dreitrom¬
melgasse; wir saßen beide auf dem Bett, dann wo hätten wir
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denn sonst sitzen können, ohne aneinander zu stoßen? Wir schau¬
ten einander ins Auge, und die Rede floß mir von den Lip¬
pen. Ich war begeistert und begeisternd, ich glaube es. Sie
erzählten und Ihre Vergangenheit, ich schilderte Ihnen Ihre
Zukunft. Ich druckte mich ein Philosoph, ich gab Ihnen Regeln
zu leben, zu denken, zu fühlen, zu schaffen. Verzeihen Sie
dem jungen Ihren, er wollte ja nicht beträgen, er war doch
selbst ein betrogener. Er hatte noch nichts genossen, und hatte
leicht zu predigen. Jugend ist Entsagung. Er kannte nicht sich
noch andere, und hatte leicht zu behaupten: denken heißt, wenn
man in einem Vers einen metrischen Fehler entdeckt; sein
Fühlen war ein oberflächliches, und er wußte nicht, daß er
auf falscher Fährte war, wenn er den Schaum, den glänzenden
pries, ohne von den Perlen tief unten etwas zu wissen.
Er sagte Ihnen, wie man Gestalter bilde, Ideale verkörpern,
Dichter sei – der Kurzsichtige! Und ahnte nicht, daß er Ihnen
einen solchen Rath gab, als hätten Sie gefragt: Wie mache
ich Dukaten? Und er hätte Ihnen geantwortet: Kaufen Sie
in Wien einen Prägstock – – – Nein, mein Freund, heute
wissen wir dies besser, Geld muß man erst haben, und das
will gegraben sein, nur die Sonntagskinder findens auf
der Straße!
Und wir saßen auf dem Bette und plauderten mit einander
über die Freundschaft, die Himmelskönigin, die heilige Braut Sabbat
*
,
A "sabbat" megszemélyesítése: menyasszony.
der man entgegenjubelt „Lecho doidi
*
”, in der man Arbeit und
A sabbatot köszöntő himnusz címe és első két szava (Lecha dodi = Gyere, barátom).
Mühsal vergisst, in der einem acht Lichter leuchten, und wenns
sonst noch so dunkel wäre. Und hatten wir genug geredet, da
gingen wir hinaus auf die Straße, wie stolz sah ich die Leuten!
Ich dachte ja: die Alle zusammen bilden doch nur eine Welt, und
das nur mit mir zusammen; ich
[törölt]
« habe »eine Welt und im Herzen viele, ungeheuer viele, jede einzelne
schöner als diese da. Ich ging in die Redaktion, aß nachtmahl
Brot mit Käse und war glücklich; stand früh auf, aß Früh¬
stück gar nicht und war zufrieden. Das haben Sie eine Woche
angesehen, ich habe es vier Monate lang gelebt.
Da lebt man so mitten drinne in einem wunderschönen Stück
Leben, und man merkts gar nicht! Man wandert auf der staubigen
Straße dahin, und ohne daß mans sieht, kommt man in einen
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grünen Wald die Zweige der Bäume schlingen sich dichter –
wer achtet darauf? Da ists auf einmal ein Palast geworden,
groß und herrlich, und man wandelt darin, wie im Traume,
man spricht eifrig miteinander, nimmt sich gar nicht Zeit auf
die Wände zu sehen, die glänzen und glitzern, auf die Decke
die strahlt von funkelnden Edelsteinen, und wenn der Glanz nicht
ins Herz fiele, man glaubte gar nicht an ihn. Man geht aber
ruhig weiter, gleichen eilenden Schrittes, man bleibt nicht stehen,
man setzt nicht nieder, da auf einmal sieht man ein Thor, ein
Moment, und man ist hindurchgeschritten, es wird kalt und all¬
täglich, man erschrickt, sieht um sich – aber das Schloss ist verschwun¬
den, das Märchen ist aus, man steht wieder auf der Landstraße,
staubig und müde, und geht vordressen weiter. Das Schloss ist
versunken und bleibt versunken, und nur wenn man das rechte
Wort ausspricht zur rechten Zeit, da habt sichs empor, schön und
freudig, und man kann hineinschauen in die Pracht durch die
bunten Fenster, aber hineingehen kann man nicht. Und als
man drinne war, da hatte mans gar nicht geachtet!
Was will man haben? Wir werden noch Paläste treffen,
wir werden hineingehe und uns gütlich thun; wir sind staubig,
der Staub wird abgewaschen werden; wir sind müde, wir werden
die müden Glieder ins hohe Gras legen, und die Sonne wird über
uns scheinen, und die Blume über uns nicken, und die Biene
über uns summen, und der Bach wird neben uns fließen, erst in
die Donau, dann ins Schwarze Meer, und dann ins Mittelmeer,
und dann ins Atlantische Meer, dann hinüber nach Amerika, wo
die Menschen frei sind, und fromm sind, und die Indianer tödten,
die Neger schinden,
[törölt]
« und »das werden wir vielleicht träumen im hohen Gras, da wird
auf einmal der Wind sich erhaben, und die Blume wegblasen, und
die Biene wegblasen, und den Traum wegblasen und den Schlaf
wegblasen... Was will man haben? Man ist doch immer unzufrieden.
Ist man selbst glücklich, ärgerts einen, daß die Indianer getödtet
werden und die Lappländer Thran saufen; und würden die Indianer
ewig leben, und die Lappländer lebten in Italien und äßen
Pomeranzen und tränken Limonade dazu, und es wäre absolut
kein Unglücklicher auf Erden, und man hätte nichts, vorüber man sich
ärgern soll, so würde man sich darüber betrüben, daß das Glück
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möglicherweise nicht ewig dauern wird, und daß man in der
Gegenwart nicht auch zu gleich alles, alles Glück der Vergan¬
genheit genießen kann.
Ich fange mir jetzt an klar zu werden, bin es aber noch nicht
ganz: denn in mir ist noch ein Streit über die Frage: was
ist größter: die absolute Nichtigkeit alles bestehenden zu erkennen
und aufhören, in lächerlichem Eigendünkel zu streben, – oder
trotzdem, daß man weiß, wie Alles Nichts ist, dennoch die
Selbstverbeugnung haben, und weiter in dem gewohnter Gleise
zu wandeln und weiter zu streben? Wenn ich darüber ins
[...]
[hiányzó szövegrész]
komme, werde ich nicht ermangeln, Sie zu benachrichtigen, und Sie
können und ebenso gut „Masel tow” schreiben, als hätte ich Ihnen
berichtet: „Ich habe
[...]
gehabt, um es heißt Benjamin.”
[hiányzó szövegrész]
Aber glauben Sie nicht, daß ich Weltverächter bin und verzweifle;
ich glaube an meine Zukunft, ich glaube, daß ich glücklich sein werde,
und noch eine Anzahl Menschen im Glücke befestigen werde. Auch
Sie stehen in einem Verhältnisse zu meiner Zukunft, natürlich!
Ich kann Sie nicht bedauern, denn Sie sind jetzt glücklich; ich bedaure
nur, daß ich jetzt nicht zwei Tage bei Ihnen sein kann. Jetzt wäre
Ihre Seele ein fruchtbarer Boden für das Korn der Erkenntnis!
... Nun, jetzt haben wir geplaudert! Kennen Sie nicht die Anek¬
dote von der
[...]
? Zu ihr kam ein junger Mann, und überreichte
[hiányzó szövegrész]
eine Karte. Sie hieß ihn
sich
[bizonytalan olvasat]
setzen, und sprach zwei Stunden ohne Aufhören
von tausend Dingen, es hörte aufmerksam zu, verbeugte sich endlich
und ging. Nachmittag fragte man sie, was sie von dem jungen
Manne halte? Ach, charmant habe ich mich mit ihm unterhalten, er ist
ebenso geistrich als liebenswürdig! Sagte sie. Der junge Mann aber
war taubstumm.
Antworten Sie sehr bald, und ich will nächstens Vernünftigenes
schreiben, und Ihnen besonders manche Bemerkungen auf Ihren
heutigen Brief mittheilen. Dann werde ich auch von Materiellen
reden, heute will ichs nicht. Ihren Gedichten sehe ich entgegen. Nazi
hat Montag sein Diplom erhalten. Schlafen Sie wol!
Ich drücke Ihnen die Hand und bin Ihr Freund
Max Nordau