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Rákos-Keresztúr, 14. Novemb. 1866.
Liebster Freund Kiss!
Ich habe Ihren Brief gestern erhalten und die Zartheit, mit
der Sie mein Schreiben gleich beantworteten, nachahmend, will
ich auch Ihr Epistel nicht nach dem horazischen nonum prema¬
tur in annos
*
behandeln und Ihnen gleich meine Erwiede¬
helyesen: annum
rung zukommen lassen. Sie sind unglücklich... Das hat noch gefehlt!
Es scheint, daß mir alle ein Kainsszeichen an der Stirne tragen,
daß wir einen Paß vom Oberschicksale haben, in welchem alle
Unterschicksale, in deren Gebiet wir uns etwa begeben, an¬
gewiesen werden, uns zu quälen. Ich begrüßte Ihren Posten¬
wechsel, als eine willkommene Änderung Ihres Geschickes, und
siehe, die Umstände gestalten sich schlimmer für Sie. Materiell geht
es mir zwar gut, aber da unsereiner nicht vom Fressen und
Saufen glücklich werden kann, so bin ich auch unglücklich. Vor
allem der Verlust Józsis, der vorige Woche in Pest war,
mich
und
[bizonytalan olvasat]
einen treubrüchigen bei Nazi versäumdete, hierauf zwischen
diesem und meiner Schwester einen gewaltigen Streit arran¬
girte, und mir, endlich ein werthvolles Buch stahl, als er sich ent¬
fernte. Das hat unser Józsi gethan und noch mehr, was zu schil¬
dern zu viel Zeit und Raum in Anspruch nähme. Er ist
nun wieder in Zomba und Sie können ihm schreiben, wenn
Sie anders Lust dazu haben. – Ferner ist Nazi sehr sehr un¬
glücklich und Sie sind es nicht minder: Grund genug, Kopfhänger zu
sein. Eine Last für vier Menschen zu tragen ist nicht leicht, Sie
können sich dies denken. Unter solchen Umständen heißt es, beweisen,
daß man über den Zufällen erhaben ist. Trösten Sie sich im Besitze
Ihres geistigen Reihes, und bedenken Sie, daß irdische Guter ver¬
gänglicher Natur sind. Brod zu essen,
d. h.
den Brothlaib zu erhalten,
[rövidítés] das heißt
werden Sie wol immer haben, und mehr braucht man von der
Welt nicht. Alles andere gibt der Geist sich selbst. Übrigens schreiben
Sie mir ob es für Sie möglich wäre, sich in Boross Jenő Ihrer Ver¬
bindlichkeit ledig zu machen. –
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Ihrem Briefe ist ein Gedicht beigelegt, das mich recht angenehm überrascht hat, da
[törölt]
« s »der beurtheilen und ihr einen größeren Raum widmen. – Sie rühmen
dem Gedicht Einheitlichkeit nach, sein größter Fehler ist es, daß es eben
diesen einen Guß nicht hat. Die ersten zwei Strofen, die zugleich recht
Prosaisch sind, gehören zum Gedicht gar nicht. Man sollten meinen Sie
wollten sagen: „Ja, wiewol du es mir nicht angesehen hättet – bin
ich doch ein Dichter”
u. d. gl.
, und doch beginnt in der dritten Strofe
[rövidítés] und dergleichen = és hasonlók
eine ganz andere Stimmung, Sie stellen Schicksalsfragen an das Zimmer,
und lassen seine Verwunderung über Ihre Poesie ganz aus dem Spiele.
Folgen Sie nur, werfen Sie die ersten zwei Strofen weg, und
[törölt]
« b »dichten Sie eine einleitende neue Strofe hinzu, in welcher Sie etwa
sagen: „Also wärst du mein vorläufiger Hafen, in das mich mein Schicksal
getrieben”; und beginnen die Apostrophe an das Zimmer. An Detailfehlern
ist die 5. Strofe gesegnet. Sie sprechen vom Paar eines Strohfepuls;
Fühle haben aber kein Paar. Sie sagen „der Flügel meines Gedankes
fragt”; der Gedanke kann fragen, der Flügel nie. Endlich ist in der
letzten Zeile das „Messze” (kergetém) ganz überflüssig, ja hinnlas¬
se der letzten Strofe folgern die dritte und vierte Zeile schwer¬
fällig dahin. Endlich leidet das Gedicht im ganzen an einer sehr schwer¬
fälligen, ungünstigen, fast nicht zu lesenden äußeren Form. Das
die Fehler. Nun zu den Schönheiten. Vor allem durchzieht das Gedicht
ein wolthätig warmer Haus. Schöne Stellen sind der dritten Strofe erste
und letzte zwei Zeilen, ganz vorzüglich der vierten Strofe fünfte und
sechste Zeile, die ganze sechste Strofe mit herrlicher Pointe und die zweite
Hälfte der letzten Strofe. – Zu wünschen wäre, daß die fünfte und
sechste Zeile der dritten Strofe logischer lauteten. Wie kann man et¬
was theilen, was man wünscht? Im großen und ganzen kann das Ge¬
dicht einen wolthätigen Eindruck machen, der Schlußgedanke überrascht
sogar, und nur manchmal wird man durch triviele Übergänge un¬
angenehm in den poetischen Illusionen gestört.
Hier haben Sie meine wolmotivirtes Urtheil über Ihr Gedicht, schreiben
Sie doch endlich Ihre Novelle fertig, von der Sie einmal gesprochen,
und verlangen Sie von „
F. L.
” noch vier Briefen endlich ein Frei-
[rövidítés] Fővárosi Lapok
exemplar oder Honorar, und schreiben sie auch anderen
[törölt]
« mo »_034_08_f02r.jpg)
Blättern gegen freie Zusendung des Blattes unfrankirte Provinzkorrespon¬
denzen. –
Sie glauben, die Einsamkeit mache mich unglücklich... O wie irren Sie! Wenn
etwas, so ist ab die Einsamkeit, die mich heilen kann, aber der Schmerz
meiner Freunde drückt mich zu Boden.
Sie verlangen, meine Umgebung kennen zu lernen. Ich bin in einem sehr
reichen Hause, habe mit dem Bruder der Hausfrau ein großes, schön¬
möblirtes, ganz separat gelegenes Zimmer allein. Ich habe die herrlich¬
ste Kost, deren ich mich zu erfreute, und trinke den besten Wein tag¬
täglich. Der Herr, ein für seine Stellung sehr gebildeter Mann, ist nie
zu Hause, und hat mich lieb. Die Hausfrau ist eine belesene, sehr an¬
genehme Persönlichkeit, die sogar zu denken vermag – welche Selten
Zeit! – und Sinn für Poesie besitzt. Mit ihr bringe ich einen Theil der
Abende angenehm genug zu. Meiner Schülerinen sind vier; ganz ange¬
nehme Kinder, bei denen ich mich recht beliebt zu machen versuche. Außer¬
dem ist noch der Bruder der Hausfrau, ein beurlaubter Militärthier¬
arzt, der sich und seiner Umgebung sehr viel Angelegenheiten macht.
Den ganzen Tag kommt er nicht in mein Zimmer, nur Abends nur
zu schlafen. Dies ist alles. Mit mehr Menschen spreche ich nicht, besuche
mache und empfange ich nicht, Bekanntschaften knüpfe ich nicht an. An Blät¬
tern lese ich nur den „Lloyd”, Bücher habe ich genug, theils mitge¬
brachte, theils hier vorgefundene. Die Umgebung ist für mich sehr neu
und schön. Im Sommer wird es hier reizend sein. Zu
[törölt]
« A »habe ich viel Lust aber bisher noch nicht ebensoviel Zeit, doch
glaube ich, Ihnen im nächsten Briefe schon etwas schicken zu können!
Mit Pest sehe ich in lebhafter Verbindung, wie ich Ihnen einmal
schon gesagt zu haben glaube. Zweimal wöchentlich empfange und schreibe
ich Briefe. (Und zwar korrespondire ich so lebhaft mit Nazi und meiner
Schwester Lotti.) Einmal war ich auch schon in Pest, jedoch nur von
12-4 Uhr, also auf vier Stunden. Suchen Sie mit Natzi in Korre¬
spondenz? Was äußert er? Was halten Sie von seiner Gemüths¬
stimmung? Ich schreibe Ihnen drei große Seiten – Weiben Sie auch nicht zu¬
rück, und schreiben Sie bald und viel Ihren ewigen Freunde
Max Nordau