Nordau Miksa – Kiss József (1866-10-07)


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Rákos Keresztúr den 7. Okt.
866  

Liebster Kiss!  

Sie sehen an dem Poststempel, daß Ihr Schreiben zu spät
gekommen: alea jacta
*
helyesen: iacta
est, ich habe einen Posten. Ich be¬
komme 210
fl
[rövidítés] florin
., habe Aussicht auf Erhöhung des Gehaltes,
bin bei ausgezeichneten Leuten, lebe, wie ich noch nie
gele
[törölt]
« s »
bt habe, und bin von meinen Lieben in Pest kaum
zwei Stunden (zu Wagen) entfernt; wenn ich schon aufs Land
ging, so konnte ich es nicht unter besseren Bedingungen
wünschen.  

Heute ist Sonntag. Seit Donnerstag Nacht bin ich hier, und
in dieser kurzen Zeit habe ich wol um 3 Zoll
*
hüvelyk (mérték)
im
Umfange zugenommen. Die Gewißheit, nun fast alle
hindernisse aus dem Wege geräumt zu haben, die mei
[szerkesztői feloldás]
¬

nem nächsten Ziele, der Matura, im Wege standen, erfüllt
mich mit Muth, und was ich schon lange entbehren mußte,
stellt: sich nun wieder ein, Stunden der Stimmung und
der Weise nämlich – auch heute morgen fühlte ich den Kuss
der Muse, das beigeschlossene, nicht gelungene, aber stim¬
mungsvoll melancholische Winterliedchen ist das Produkt dieser
Stunde. Es soll zugleich die Erwinderung Ihres sehr hübschen
humoristischem Gedichtchens bilden.  

Was mich einzig mit Schmerz erfüllt, aber einem Schmer¬
ze, der reichlich all das hiesige Wolleben aufbietet, das
ist der Gedanke an den einsamen Nazi, an meine trau¬
ernste Schwester, und dazu kommt noch, daß auch Sie noch
nichts Gewisses, über Ihre Zukunft wissen. Wären nur
Sie schon versorgt! Begönnen nur schon Natzis Vorlesungen!
Müthete nur in Rast die Cholera nicht mehr so arg! Sorgen
Sorgen und Sorgen, Leid, Schmerz, Trübsal, ergo ich gedacht hätte
Frieden zu finden. Ich sehe nun nachgerade doch ein, das  

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der Mensch nicht zufrieden (glücklich wäg ich nicht zu
sagen) sein kann, wenn er nicht ganz allein ist. So
lange das Herz noch durch Gefühlsfäden mit anderem
verbunden ist, muß es leidvoll und freudvoll durch
jede Bewegung, die von außen kommt, erschüttert werden.
Und wenn man ganz auf sich beschränkt ist, kann man
Herr über die Umstände werden, was allein des Menschen
Glück ausmacht. Sonst sind immer die Umstände und Zu¬
fälle über das Individuum herrschend.  

Ich bin erst 2 ½ Tage hier, und erfreue mich schon großer
Beliebtheit. Der Schwäger meines Chefs, ein Rittmeister
[törölt]
« d »
bei der Artillerie, der jetzt auf Urlaub hier ist,
pässt mich fortwährend, und wir duzen aus schon. Die
Frau vom Hause, für eine Dorfdame hochgebildet, macht
mir beständig Complimente, der Hausherr magt gar
nicht zu mir zu sprechen. Gestern betrank ich mich mit
3 halben zehnjährigen herrlichen Rothweines scheußlich.
Mittag trank ich, um 1 Uhr brach ich, um ½ zwei schlief
ich, um 6 Uhr erwachte ich und bekam Ihren Brief
mit einem Schreiben von zuhause, um 7 Uhr trank ich
einen schwärzen Kaffee und brach wieder, ich legte
mich wieder um acht Uhr, worauf ich heute früh er¬
wachte, mit einem Katzenjammer, an dessen Größe nur
mein Hunger erinnerte.  

Mein Chef heißt Fuchs, ist reich, hat Realschuler absolvirt.
Meiner Schulerinen sind vier, davon zwei krank.
Ich habe hier mehrere werthvolle Werke gefunden,
die mich faktisch entzückten (so Thiers Geschichte der Franz
.
[rövidítés] Französische

Revolution in 20 Bänden, Boz
*
Charles Dickens (1812-1870) írói álneve
"s
sämmtl.
[rövidítés] helyesen: sämtliche = összes
Werke, einen Ollen
[szerkesztői feloldás]
¬
*
Heinrich Gottfried Ollendorf (1803-1865) német nyelvpedagógus

dorf
*
Heinrich Gottfried Ollendorf (1803-1865) német nyelvpedagógus
sammt Schlüssel,
u. s. w.
[rövidítés] und so weiter = és így tovább
) Ich glaube, ich werde an Leib
und Seele hier gefunden. Ich will nach einem Jahre viel  

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aufzuweisen haben.  

Der Ort hat 200 Nummern und ist sehr rein. Es wohnen
hier Slovaken, doch auch Ungarn (sehr wenig) und etliche
eingewänderte Würtemberger
*
helyesen: Württemberger
, die mich sehr interessiren.
Die letzte Post ist Steinbruch; der Postverkehr beschränkt
sich auf wöchentliche drei Posttage. Zum Glück aber
[törölt]
« geh »

verkehrt zwischen hier und Pest ein Omnibus, dessen Be¬
sitzer auch Briefe befördert. So kann ich um 5 kg
einen ganzen Pack Briefe um sechs Uhr frühe hier
dem Kutscher geben, und um 10 Uhr hat ihn der Adres¬
sat in Pest schon, und wenn man umgehend antwor¬
tet, kann ich noch um sechs Uhr Abend die Antwort
haben, da der Wagen um drei Uhr Nachmittags von
Pest abgeht.  

Verhäumen Sie ja nicht, mir so bald als möglich zu schreiben.
Wenn Sie gesonnen sind, Nazi extra zu schreiben,
so adressiren Sie Ihren Brief an „Max Nordau bei
Herrn Fuchs in Rákos Keresztúr bei Steinbruch”, wenn
aber Nazi einen Antheil an den Brief hat, so werde
dieser unter der gewohnten Adresse nach Pest versehen,
ich bekomme ihn gewiß noch denselben Tag. Lassen Sie
mich nicht lange in Ungewißheit über
[törölt]
« seine »
Ihr
[betoldás]
Schicksal!
Ihr „Polstergedicht” habe ich meiner gnädigen vorgelesen, die
nicht genug Lobspräche dafür auftreiben konnte. Ich verbeug¬
te mich ein über das anderemal für Sie, und freute mich
der Anerkennung, die Ihnen zu Theil wurde. Nur produziren!
Das richtet den Geist sehr auf. Und lernen! Ich mache es
jetzt ernst, ich wollte es geschähe dies auch Ihrerseits. Machen
Sie sich des Pränumerationsgelder wegen keine Sorgen,
nur leid ist mir, daß ich Ihnen die erhofften 20
fl
[rövidítés] florin
. zu nich¬
te mache. Übrigens, wenn Sie sehr Noth haben, so braucht
es nicht den Namen „Sensarie
*
közvetítói jutalék (ritka, osztrák jövevényszó a németben)
”, und der Freund wird unter
bereit sein, Ihnen zu helfen.  

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Ich bin hier in eine ganz eigene Welt versetzt worde vom
Dorfschenken, der ausgedienter Husarenwachtmeister und
deutsch ungarisch slawisch und italienisch spricht, bis zum großen
gelben Haushund Huszár ist mir alles neu und interessante.
Mein Zimmer hat einen Lehmboden, dafür aber sitze ich
jetzt an einem Schreibtisch, der unter Brüdern 30-40
fl
[rövidítés] florin
.
werth ist. So sind die Landleute! Prachtvolle Möbel in
Zimmern, die in der Stadt kein Hund bewohnen würde.
Ich würde Ihnen gerne noch mehr schreiben, aber erstens
habe ich noch immer Katzenjammer, und dann muß ich noch
an Natzi, Lotti, Spiegel und wo möglich Eisenstamm schreiben.
Überhaupt werde ich in der ersten Woche wahlen zu thun
haben. Ich soll ja noch meinem Bruder, Dr Földényi, Stern¬
berg, Stroßmann und einem sichern Tauber, meinem hiesigen
Vergänger, schreiben, und jeder wird möglichst viel zu lesen
haben wollen.  

Schreiben Sie gleich und viel, Sie wissen, daß man auf dem Dör¬
fe mit Sehnsucht dem Briefboten (hier ein altes Weib) ent¬
gegensieht. Ich drücke Ihnen die Hand als Ihr  

Max Nordau
[...]
[hiányzó szövegrész]
 

Das erwährte "Winterlied" lautet:
Ich sitz in drinnender Stube,
Und draußen rieselt der Schnee
In meinem Herzen drinnen
da ist mirs gar so weh!
Es deckt die Schneesdecke
die Erd in ihrer Ruh,
doch häutet Last auf Lasten
der Winter noch immer dazu.
Und schwer gewaltiges Leiden
zermalmt mir schier das Herz,  

Und drüber ewigt das Schicksal
noch immer neuen Schmerz!
Aus meinen Augen brechen
Und rieseln die Thränen säh,
vor meinem Fenster traurig
Geminder rieselt der Schnee.