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Pest, 18. Juli 66.
Lieber Freund!
Gestern habe ich Ihren Brief bekommen, der auf sich fast zwei
Monate warten gelassen hatte. Ich muß Ihnen gestehen, ich
war sehr böse auf Sie, und Sie wissen vielleicht trotz
der kurzer Zeit, die wir zusammen verbrachten, daß ich
stolz, sogar ungebührlich stolz bin. Ich war mit mir dar¬
über längst einig, daß ich, falls Sie doch einmal ant¬
worten sollten, Ihnen keine Zeile erwidere – solche Faul¬
heit wollte ich nämlich bestrafen; allein die Beilage Ihres
Briefes, das poetische Epistel, hat mich vollkommen mit Ihnen
versöhnt, und – ich antworte schon in 24 Stunden. Ein
Beurtheilung des „Barátaimhoz” ziemt mir nicht, weil
ich zu unmittelbar dabei interessirt bin, doch kann ich Ihnen
sub rosa sagen: daß mir dies bisher als Ihr gelungenstes
Gedicht erscheint. Einige schlechte Bilder wie „sastej”, „hópehely¬
ként szálló” u. s. w. einige unvermittelte Übergänge verzeihe
ich der Wärme wegen, die mich auch wirklich angeregt
hat, Ihnen sogleich mit einem Gedichte zu antworten, das
ich Ihnen hier folgen lasse. Zeigen Sie es um des Zimmer
[...]
[hiányzó szövegrész]
willen hat keinem Menschen, es ist eine Improvisation
und hat als solche keinen Anspruch auf Werth, betrachten
Sie es nur als einen gereimten Ausdruck jener Gedan¬
ken, die ich Ihnen mündlich und schriftlich oft geäußert.
Sie lesen Shakespeare? Das ist hübsch; weniger gefällt mir
aber, daß Sie ihn ohne Vorkenntnisse lesen. Ich mache Sie dar¬
auf aufmerksam, sich jede handelnde Person lebhaft vor¬
zustellen, und sich dann bei jeder Änderung, jeder Handlung
dieses Person zu fragen: Ob wol des Mensch, den Sie in Ihrer
Phantasie sehen, dieses gesagt oder gethan haben würde? Auf
diese Weise werden Sie wenigstens von Shakespeare die kennt¬
niß der Charakteristik profitiren. Das andern Zubehör eines
Dramas, vor allem ob die Idee dramatisch sei, die Exposition,
die Handlung, den Effekt, und die sonstigen Detailbedingungen
muß man theoretisch lernen. Ich habe zu diesem Zwecke Aristoteles,
Lessing (negativ), Schlegel, Hettner und Rötscher benützt. Wenn Sie
sich eine der genannten Autoren verschaffen können, thun Sie
es.
Eine ausführliche Beurtheilung Ihrer Gedichte kann ich diesmal nicht
geben; bis ich mehr Laune dazu mitbringe, sollen Sie sich über
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meinen kritischen Geist nicht zu beklagen haben; vorläufig sage
ich Ihnen nur ganz unmotivirt: „Nyári éjjel” ist schrecklich pro¬
saisch, „Mikor a világnak” fängt wunderschön, mit fast orienta¬
lischer Geführsinnlichkeit an, geht aber wieder so verdammt trivial
aus, und leidet außerdem an einem Formfehler in das letzten
Zeile; „Végzet” ist eine Schwänzerei, „A p...i kastélyban” ist
der Form nach mißlungen, enthält aber hübsche Bilder und gut
beschreibende Stellen. Dagegen sind „Boldogtalan dalai” wirklich schön,
besonders das erste und dritte, wo sich das unvermittelte
„Ó anyám, anyám” zu einem prachtvollen Effekt gestaltet, das
zweite hat den Fehler, daß die Sage vom König zu wenig
plastisch hervortritt dagegen ist die Anwendung tadellos.
Im allgemeinen kann ich Ihnen sagen, daß Ihnen nicht als
künstlerische Überlegung fehlt: der Rohstoff ist da, aber um dar¬
aus ein Kunstwerk zu formen, muß man erst und reiflich
denken, man darf
[törölt]
« u »man höhere Ziele verfolgt.
Was Ihren Wunsch betrifft, eines Ihren Gedichte gedruckt zu sehen,
kann ich in Ihnen besonders in Bezug auf die „Boldogtalan
dalai” die besten Hoffnungen erwecken, aber nur Ge¬
duld! Ich werde Sie mit anderen Abdruck überraschen,
wann Sie"s vielleicht am wenigsten erwarten.
Sie wollen lernen! Seit Ihnen, wenn Sie es ernst meinen;
ich sage Ihnen: Sie haben noch gar nichts verloren, und
alles zu gewinnen, und muth! Schauen Sie 100
fl
. auf¬
[rövidítés] florin
zutreiben, und lernen Sie vorläufig: Geschichte; ein wenig
Physik;
ung
. Literaturgeschichte; wenn Sie können: Mathematik und
[rövidítés] ungarische
Philosophie; dann besonders: Virgil, Ovid, Horaz, Tacitus, Cicero,
Cäsar und Sallust, Homer, Xenophon und Plutarch (viele Namen, aber
bei halbwegs gutem Gedächtniß kleine Arbeits, setzen Sie sich
mit dem Direktor des Köröser Gymnasiums in brieflichen
Verkehr, da wird Ihnen alles nähere bereitwillig mitthei¬
len, und bei Vorhandensein der ersten Bedingung (Geld) und
auch nur geringen Fleißes können Sie im Febr, und
wo nicht, doch im Juli 1867 maturirt haben, und im
Oktober desselben Jahres akademischer Bürger sein.
Nachdem Sie sich auf diese Weise eine bestimmte Lebens-
aussicht eröffnet haben würden, könnten Sie an das
ernstliche studiren gehen – denn was man für die
Matura lernt, nun, das hat man eben und für die matura gelernt,
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dann könnten Sie anfangen daran zu denken, daß Sie
es zu einer Stellung in den vaterländischen Litera¬
tur bringen wollen – und gewiß – Ihre Pläne müssen
sich verwirklichen, nur Ausdauer und Wille! Und wenn
Sie diesen letzteren nicht haben, so ist es in
Ihrem Interesse nöthig, daß Sie in ununterbrochenem
Verkehre mit uns bleiben, daß wir Sie so oft
als möglich aufmuntern und Ihre etwa nachlassende Wil¬
lenskraft durch anschüren und ermahnen wieder stär¬
ken können. Es ist also jedenfalls in Ihrem Interesse
liegend, wenn Sie so oft als möglich schreiben.
Als Ihr Brief gerade gestern, und nicht einige Tage
später eingetroffen ist, das ist ein glücklicher Zufall, denn
sonst hätte es Natzi nicht mehr hier angetroffen dieses
sonst nämlich Sonntag nach Hause und bleibt über 9
Wochen dort. Wenn Sie wollen, können Sie mit ihm
und mir einen Verkehr einleiten, so lange wir von
einander getrennt sind – es dürfte, sich dies für Sie
als sehr anregend bewähren!
Sie haben wahrscheinlich viele Langeweile? Doch nein, wie
mir die übersandten (wüst neuen?) Gedichte beweisen, ar¬
beiten Sie fleißig. Doch
[törölt]
« schrei »der Novelle, Erzählung, Sage oder Skizze! Überhaupt
in der ungarischen Prosa, in der Sie bisher nichts gethan
haben. Sie wurden gewiß gerne höhige belletristische
Blätter haben, also theile ich Ihnen mit, daß kurze Provinz¬
korrespondenzen allen Blättern sicht willkommen sind,
man sendet Ihnen gegen solche gerne ein Freiexam¬
plar. Wenden Sie sich wegen des Näheren
[törölt]
« ganze »an die betreffenden
Redakt
ionen. Hier einige Adressen:
[betoldás]
„Fővárosi lapok” (Emich Gustav"s Verlag), „Nefelejts” (Sebestyén tér. 1 szám), „Hazánk
*
helyesen: Hazánk s a Külföld
és külföld
*
” (helyesen: Hazánk s a Külföld
[törölt]
« ors »von allen vieren abweisende Antwort erhalten, schreiben Sie
es mir, und ich theile Ihnen andern Adressen mit. Die Kor¬
respondenzen schikt man unfrankirt. Man erhält durch Sie
bei die betreffenden Blättern zutritt auch für andere
Arbeiten, und das kämmt einem einmal sehr zu Statten
also Muth, Ausdauer, Willen! Wir beide haben ein gleiches
Ziel. Treten wir den schwierigen ganz zu demselben zugleich¬
iren! Und hier folgt das Gedicht, von dem zu Anfang gesprochen:
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An Josef Kiss.
(als Erwiderung auf sein „Barátaimhoz”.)
Durch die Ferne, die uns trennet, reich ich dir die Freundeshand!
Sei es ewig denn geschlungen, das erhaben Freundschaftsband.
Sei es endlich denn der Faden, der dich aus dem dunkel führt,
Drin die Seele, lichtersehnend, an dem Schmerzensfeuer schürt.
Laß entfliehen, was vergangen, halt" das Rad der Zeit nicht ein.
Tu es Schuld,
[törölt]
« doch »Werde rein, und schließe muthig der vergangnen Jahre Thor,
Kräftig ringe deine Seele sich zum kunftigen Luft empor.
Leucht hinab ins tiefe dunkel, das so lang dein Herz erschreckt.
Suche auf die finstern Geister, die dort hausen tiefversteckt!
Nicht gebebet! Stand gehalten! Sieh die Schemen, deren drohn
Dich erfüllt mit stetem Zagen, die du feige lang geflohn!
Sieh vor allem sind den Zweifel an dem eignen, guten Werth.
Diesen Geist bekämpfe muthig mit der Selbstvertrauens Schwert!
Hier das Zangen vor der Zukunft... Sieh, wie dir die Hoffnung
prinkt,
Das Gespenst von dir zu jagen, wie sie hoch den Lorben schwingt.
Und die Einsamkeit! Wie traurig – und ihr Auge wie so trüb!
Und sie lispelt, daß dem Söhnen unverstanden immer blieb.
Fort – sie lügt! Du bist verstanden,
[törölt]
« und »Und ich sage: muthig, muthig! Und das Ziel – es ist erreicht!
Tauche in den Quell des Wissens, daß die Fluth dich rings umrauscht,
daß die Seele den geheimen Worten, die sie
[törölt]
« neuer »Wie das drachenblut-Bad Siegfried schützte vor, den Wunden all,
Also vor den Geistern schutzt dich dieser seinen Fluthen Schwall.
Siehst du nicht den Stern, den hellen, blitzend zwischen Wolken hoch?
Siehst ihn nicht? So ist dein Auge ungeubt und blöd noch?
Doch ich sehe ihn – ich sah ihn – und der Stern – er heißet Kunst,
Und er glänzt als lichter Führer zwischen dunklem Nebeldunst.
Fasse meine Hand – so schreiten wir zusammen unsern Weg,
Mancher Vorgang will uns locken von der kaum gebahnten Steg,
Öften wird der Stern verdunkelt von der Leidenschaft Gewähl,
Eitelkeit verlegt den Pfad uns, flüsternd stets: „hier ist das Ziel...”
Aber
[törölt]
« O »Welche wunderbaren Auen... Welch ein selten, tiefer Ton...
Hier das Ziel! Es flieht das Dunkel, und die Nacht – schon liegt sie weil,
Über uns erstrahlt die Sonne prächtig der – – Unsterblichkeit! –
Mein „Deutschland” ist fertig, kann aber der kriegerischen Verhältnisse wegen
nicht abgeschickt werden. Näheres darüber nächstens. Schreiben Sie bald, sonst
ist sehr böse
Ihr
Max Nordau
(
[...]
gasse nr7 Thür 6
[hiányzó szövegrész]